• 83. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 362, K08
    Oct 4 2024
    Redundanz bedeutet im Rechtssystem: Um eine neue Information einzuordnen, bezieht man sich auf schon vorliegende Informationen. Diese sind schriftlich in Texten fixiert und schränken den Auswahlbereich dessen, was daran angeschlossen werden kann, ein. Doch der Text muss ja noch interpretiert und in Bezug zum aktuellen Fall gesetzt werden. Und wer interpretiert, muss antizipieren, ob die Auslegung auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein wird. Interpretation ist damit ein soziales Verhalten. Ausgewählt werden Unterscheidungen, die auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein sollen. Wie andere Teilnehmer dann tatsächlich daran anknüpfen, ist nicht zweifelsfrei vorhersehbar. Das heißt: Solange die Diskussion darum kreist, wie ein Text zu interpretieren ist, konstituiert der Text für die Beteiligten ein soziales Medium. Jeder Sachverhalt, der entschieden wird, bildet eine Kommunikationsepisode. Dabei ist die Auswahl der Begriffe, mit denen ein Argument begründet wird, kontingent. Das heißt: Es könnte auch anders ausgewählt werden. Hermeneutik, Dialektik und Rhetorik gingen noch davon aus, ein „Subjekt“ könne „objektiv“ die „Wahrheit“ erkennen. Die Theorie sozialer Systeme geht jedoch davon aus, dass jede Beobachtung eine Konstruktion eines Beobachters ist. Sie kann nur mit Begriffen geschildert wird, deren Auswahl kontingent ist. Eine Besonderheit des Rechts besteht darin, dass jeder Fall entschieden werden muss (Justizverweigerungsverbot). Darum ist auch die Argumentation entscheidungsgetrieben. Sie bezieht sich laufend auf Entscheidungen anderer. Man orientiert sich an der im Fachgebiet „vorherrschenden Meinung“, verfolgt Entscheidungen anderer Gerichte und beurteilt Präzedenzentscheidungen entlang der Frage, welche Entscheidungsregeln ihnen zugrunde gelegt wurden. Je nachdem, ob der Sachverhalt im aktuellen Fall gleich/ungleich ist, ist dann zu entscheiden, ob dieselbe Regel wieder anwendbar ist oder nicht. Immer geht es darum, einerseits universelle Entscheidungsgründe zu finden, die künftig auf gleiche Fälle desselben Typs angewendet werden können. Und andererseits spezifische Entscheidungsgründe, die sich aus der Besonderheit des Falls ergeben. Die Argumentation bereitet die finale Entscheidung dabei „nur“ vor. Sie selbst produziert noch kein geltendes Recht. Ihre Funktion ist es, den Auswahlbereich von final zu treffenden Entscheidungen einzuschränken. Wir finden also eine Doppelstruktur vor: geltende Texte und argumentative Begründungen. Die Argumentation bezieht sich redundant auf normativ anzuwendende Regeln und Prinzipien. Sie selbst ist aber kein normativer Prozess. Im Gegenteil. Nur wenn die Argumentation auch Enttäuschungen produziert, aus denen sich etwas lernen lässt, können normative Regeln und Prinzipien formuliert werden, auf die sich zukünftige Argumentationen beziehen können. Erst auf diese Weise entsteht eine Rechtsdogmatik, die sich selbst als Rechtsquelle behandeln kann. Gründe werden bei der Interpretation als „gute“ Gründe dargestellt. Es wird so logisch und so „objektiv“ wie möglich begründet. Im Ergebnis erscheint Argumentation als Kondensat aus geprüften „guten“ Gründen – eben als das, was man „Institution“ nennen kann. Die Theorie sozialer Systeme weist jedoch darauf hin, dass es keine Letztbegründung für Gründe geben kann. Auch die Vernunft kann sich nur mit sich selbst begründen (Tautologie). Vollständiger Text auf luhmaniac.de
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    2 h y 8 m
  • 82. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 356, K08
    Sep 8 2024
    Redundanz und Varietät sind zwei sich gegenseitig steigernde Bedingungen der Möglichkeit juristischer Argumentation. Insbesondere durch sequenzierte Konditionalprogramme erhöht das Rechtssystem seine Varietät. Gerechtigkeit bedeutet im Rechtssystem konsistentes Entscheiden. Konsistenz wiederum wird in der juristischen Argumentation durch Redundanz gewährleistet. Sie sorgt dafür, dass jede einzelne Entscheidung im Verlauf des Kommunikationsprozesses konsistent ist. Mangelnde Konsistenz kann als Fehler bemängelt werden. Auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung scheint es nur um dieses Erkennen von Fehlern zu gehen. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung lässt sich jedoch erkennen: Dieser Operationsmodus, die Art und Weise, wie die rechtliche Kommunikation voran prozessiert, ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Gesellschaft ihr Rechtssystem als autonomes Kommunikationssystem anerkennt. Denn Redundanz schränkt die Möglichkeiten funktional ein, mit denen an den Neuigkeitsgehalt einer Information angeschlossen werden kann. Zugleich zwingt sie dazu, ungleiche Fälle als ungleich zu markieren und die Varietät zu steigern. Varietät heißt: Das System ist in der Lage, viele verschiedenartige Fälle zu bearbeiten. Die Begriffe Information, Redundanz und Varietät hängen wie folgt zusammen: Redundanz ist diejenige Information, die man schon hat, um eine neue Information zuordnen zu können. Varietät ist die Information, die einem dazu noch fehlt. Sie muss erst ermittelt werden. Das heißt, von einem vorliegenden Fall aus der Vergangenheit muss mithilfe von Redundanzen auf den aktuellen Fall geschlossen werden. Ist er ungleich, ist Varietät notwendig. Redundanzen haben unterschiedliche Qualitäten. Manche Formen sind mit mehr Varietät kompatibel als andere. Luhmann hebt sequenzierte Konditionalprogrammen hervor: Durch Wenn-dann-Programme lassen sich mehrere Bedingungen miteinander vernetzen. Wenn A und B und C gegeben sind, dann… Diese Bedingungen müssen alle gleichzeitig gegeben sein. Sie sind nicht hierarchisch, sondern heterarchisch miteinander vernetzt. Je mehr Bedingungen eingezogen sind, desto mehr Anschlussmöglichkeiten ergeben sich logisch daraus. Kurz: Durch sequenzierte Konditionalprogramme steigert das System seine Varietät. Beschreiben lässt sich ein solcher Operationstypus auch mit anderen Begriffen. Man kann auch sagen: Das Rechtssystem legt Falltypen fest und schließt von einem Typus auf einen anderen. Oder: Es legt Rechtsinstitute fest und organisiert seine Vorgehensweise über Prinzipien. In jedem Fall lässt sich erkennen: In Form von Wenn-dann-Programmen legt das Recht Bedingungszusammenhänge fest. Ein in einem Institut entwickeltes Programm gilt dann aber nicht „automatisch“ für alle anderen Institute oder Fälle. Was verschiedene Rechtsgebiete entwickeln, ist nur lose miteinander gekoppelt („loose coupling“), nicht strikt. Varietät und Redundanz steigern sich gegenseitig. Durch mehr Redundanz lässt sich mehr Varietät herauskitzeln. Und mehr Varietät steigert – wie nebenbei – die Anzahl zukünftiger Redundanzen. Jede Variation eines Sachverhalts macht es erforderlich, neue Regeln zu bilden, um die Abweichung zu managen. Die neue Regel schafft dann wiederum neue Anschlussmöglichkeiten für zukünftige Fälle und zukünftige Abweichungen. Man landet beim Evolutionsbegriff: Evolution ist der Prozess aus Variation, Selektion und Restabilisierung. In der Kommunikation heißt das: Jede einmal akzeptierte Variation bietet neue Anschlussmöglichkeiten für weitere Variationen. Die Evolution verläuft zirkulär. Variationen ermutigen dazu, Variationen zu wagen. Auf diese Weise kann das Recht auch auf veränderte Erwartungen aus der Umwelt reagieren, z.B. im Klimaschutz. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de
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    1 h y 15 m
  • 81. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 352, K08
    Jul 12 2024
    Die Bedingungen der Möglichkeit juristischen Argumentierens bestehen aus einer Kombination von Institutionalisierung und Redundanz. Was bedeutet das? Wenn man fragt, welche evolutionären Entwicklungen vorausgehen müssen, damit sich juristische Argumentation entfalten kann, bieten sich zwei Voraussetzungen an. Die erste besteht darin, dass sich die Rechtskommunikation institutionalisiert. Dies schränkt den Auswahlbereich möglicher Kommunikationen ein. Die zweite Voraussetzung ist, dass innerhalb dieses Rechtsinstituts normativ Redundanz angewendet wird. Redundanz erfüllt die Funktion, diejenigen Informationen auszuwählen, die rechtsrelevant sind. Um zu beobachten, wie das Rechtssystem in der Argumentation seine Selbstreproduktion vollzieht, unterscheidet Luhmann Information von Redundanz. Eine Information ist der Überraschungswert einer Nachricht, der Neuigkeitswert. Redundanz schränkt nun die Anschlussmöglichkeiten ein. Sie selbst ist keine Information, sie enthält nichts, was nicht schon bekannt wäre. Stattdessen verweist sie darauf, dass die Information in der institutionell vorgeschriebenen Weise überprüft werden muss, inwiefern sie für die Entscheidungsfindung relevant ist. Soziale Systeme benutzen immer beide Operationsweisen. Während Informationen neue Anschlussmöglichkeiten generieren, schränkt das laufende Bewusstmachen von Redundanz die Anschlussmöglichkeiten ein. Die Kommunikation muss stets sowohl auf das Neue (die Information) als auch auf das Redundante Bezug nehmen. Redundanz ermöglicht Indifferenz in der Kommunikation. Ein vager Hinweis reicht. Weder ist es nötig zu erörtern, was der Hinweis für alle anderen Operationen des Systems bedeutet, noch für die Umwelt, z.B. für die Wirtschaft. Rein sprachlich findet sich im Recht zwar ein hohes Maß an Redundanz: Viele Formeln und Sprüche eignen sich dafür, in diversen Situationen angewendet zu werden. Da jedoch viele Rechtsbegriffe unspezifisch sind, ist das eher Rhetorik. Im konkreten Fall muss semantisch präzisiert werden, was Redundanz in Bezug auf eine Information bedeutet. Das macht Arbeit und kostet Zeit. Es ist darum im „Interesse“ des Systems, sich nicht selbst mit zu vielen Informationen zu überlasten. Neben dieser Funktion, das System vor Überlastung zu schützen, dient Redundanz dazu, Fehler zu erkennen und zu vermeiden. Je mehr Informationen ein komplexes System wie das Recht verarbeitet, desto mehr Redundanzen braucht es auch, um sich selbst überprüfen zu können, ob es fehlerfrei arbeitet. Oder zumindest: einen Weg zu finden, wie es mit eigenen Fehlern in einer legitim erscheinenden Weise umgehen kann. Ein hoher Redundanzwert führt dazu, dass das System lernt, mehr verschiedenartige Operationen durchzuführen. Es erhöht seine Varietät, indem es mehr Differenzen herausschält. So gesehen, produzieren Redundanzen dann auch Informationen – aber nur intern für das System. Redundanzen dienen also zunächst dazu, Komplexität zu reduzieren, um dann von dieser Basis aus wiederum die Systemkomplexität zu steigern. Die meisten Kommunikationen aus der Umwelt des Rechtssystems haben für das System keinen Informationswert. Durch Redundanzen filtert das System, was rechtsrelevant ist und was nicht. Es kann allen irrelevanten Informationen gegenüber indifferent bleiben. Umweltgeräusche (noise) können auf diese Weise abgewehrt werden. Aber auch systemintern dienen Redundanzen dazu, Operationen entweder zu verknüpfen oder umgekehrt, keinen Zusammenhang herzustellen. Auf diese Weise managt das System Komplexität. Vollständiger Text auf luhmaniac.de
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    1 h y 35 m
  • 80. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 348, K08
    Apr 18 2024
    Wie die Theorie sozialer Systeme „juristische Argumentation“ definiert Herkömmliche Argumentationstheorien gingen von einem essentialistischen Weltbild der Vormoderne aus und definierten juristische Argumentation als überzeugendes Begründen. Für Begründungen gibt es jedoch keine Letztbegründung. Man landet unweigerlich bei der Autologie der „Vernunft“. Darum schlägt Luhmann eine Neudefinition vor. Diese orientiert sich strikt an der Kommunikation, die man im Rechtssystem vorfindet. Wie jede Kommunikation, verläuft auch juristisches Argumentieren nach dem Evolutionsschema Variation – Selektion – Restabilisierung. Dasselbe gilt für das Begründen. Immer handelt es sich um begriffliche Unterscheidungen, die selektiert werden (und darum kontingent sind). Juristische Argumentation ist demnach eine Kombination von je einer Seite dreier Unterscheidungen: Operation/Beobachtung, Fremd-/Selbstbeobachtung und strittig/unstrittig. Zunächst kritisiert Luhmann, dass herkömmliche Argumentationstheorien auf antiken und vormodernen Denkweisen beruhen. Diese sind geprägt durch die Begriffe Topik, Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik. Gemeinsam ist ihnen ein essentialistisches Weltbild. Sie setzen ein menschliches Subjekt voraus, welches die „Essenz“ der Dinge (das „Wesen“ des Objekts) zweifelsfrei erkennen könnte. In dieser Vorstellung dient Argumentation dem Finden einer quasi einzig gültigen Wahrheit. Topoi (der Plural von Topik) sind Sprachbilder, die man heutzutage wohl am ehesten als Frames (Rahmen) bezeichnen würde. Etwa: eine Metapher, eine Verkettung von zwei Begriffen zu einem neuen Begriff (z.B.: Klima-Krise) oder eine Redewendung. Ein Frame legt unausgesprochen mehrere Eigenschaften, Bewertungen und Entscheidungen gleichzeitig nahe. Auf diese Weise liefert er, bewusst oder unbewusst, Informationen, aus denen man Argumente schöpfen kann. Z.B. legt der Begriff Terroranschlag mehrere Vorstellungen gleichzeitig nahe: Ereignisablauf, Opfer, Täter, Ursache, Folgen. Jede Einzelannahme kann unterschiedlich stark/schwach vorgeprägt sein. In einem Frame werden also diverse Denkschemata zu einem gemeinsamen Sinnhorizont verknüpft. Ein anderes Beispiel ist die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith (1776). Dieses Sprachbild prägte die Vorstellung, wie Preise zustande kommen. Letztlich ist die Topik ein Fachbegriff der Rhetorik: Es geht darum, andere zu überzeugen. Die Semantik, die pure Wortwahl legt bestimmte Deutungen nahe. Rhetorik ist die sprachliche Kunstfertigkeit, so zu argumentieren, dass die Darstellung plausibel erscheint und beklatscht werden kann (lat.: applaudere). Zu diesem Zweck werden Ursachen und Wirkungen selektiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Schon Platon kritisierte, dass die Rhetorik weniger der Findung der „Wahrheit“ und mehr der Täuschung diene. Durch wohlfeiles Reden würde der Gesprächspartner regelrecht überredet. Auch die Dialektik (altgriechisch: Kunst der Unterredung, im Dialog) ging davon aus, dass eine argumentative Form der Gesprächsführung zur „Wahrheitsfindung“ führen würde. Im Gegensatz zur Rhetorik handelt es sich jedoch um eine methodische Anleitung zur Argumentation. Einer These wird eine Antithese gegenübergestellt und aus dem Widerspruch eine Synthese abgeleitet, die diesen Widerspruch „aufzuheben“ scheint. Bei Hegel vereinte sich der Widerspruch zwischen zwei Gegensätzen zu einem höheren Dritten. Marx nahm an, historisch würden sich logisch die „besseren“ Verhältnisse durchsetzen. Hermeneutik wiederum ist die Lehre von der Interpretation der Zeichen. Ihren Namen verdankt sie Hermes, dem Götterboten. Beim Orakel von Delphi ging es darum, mystische Zeichen zu deuten. Die hermeneutische Kunst sollte die Sprache der Götter erhellen und Weissagung (Devination) ermöglichen. Davon hingen Entscheidungen ab! Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de
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    1 h y 18 m
  • 79. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 343, K08
    Mar 17 2024
    Juristische Argumentationstheorie setzt auf Begründungen. Doch was ist ein Grund? Luhmann kritisiert, dass der Begriff allein nichts besagt. Eine Begründung ergibt erst Sinn, wenn sie auf ausgewählte Unterscheidungen verweist. Die Kontingenz dieser Auswahl macht die Theorie sich nicht ausreichend bewusst. Was ist ein Grund? Den Grund an sich gibt es nicht. Das sieht man schon daran, dass es keinen Gegenbegriff gibt, keinen „Ungrund“ oder „Nichtgrund“. Der Begriff ist keine Zweiseitenform. Wer begründet, muss deshalb auf begriffliche Unterscheidungen verweisen, die selektiert werden. Wie bei jeder Auswahl, könnten auch andere Unterscheidungen ausgewählt werden. Damit sind Begründungen kontingent. Man kann immer weiter fragen, womit die Begründung begründet wird. Eine Letztbegründung gibt es nicht. Auch die „Vernunft“ hilft nicht weiter, sie begründet sich selbst mit sich selbst, ist also autologisch. Begründungen sind also eine Paradoxie. Sie begründen sich mit Gründen, die sich nicht endgültig begründen lassen. Um diese Paradoxie im Alltag zu managen (das heißt: zu invisibilisieren!), behilft sich die juristische Argumentation mit einer Ersatzunterscheidung: Man unterscheidet gute und schlechte Begründungen. Diese Ersatzunterscheidung ist sowohl praktisch wie auch theoretisch handhabbar. Man stellt Kriterien auf, was eine gute/schlechte Begründung ausmacht. Diese Kriterien sind jedoch ebenfalls kontingent. Zwangsläufig sind sie das Ergebnis einer weiteren Selektion, die anders hätte ausfallen können. Man kann die Auswahl nur wieder gut oder schlecht begründen. Der Kontingenz aber entkommt man nicht. Die Erkenntnis, dass Begründungen kontingent sind, weil sie auf ausgewählte Unterscheidungen zurückgehen, gehört für Luhmann zu den Errungenschaften des „modernen“ Denkens. Im Gegensatz dazu war die Vormoderne davon ausgegangen, es gäbe „objektive“ Wahrheiten, die ein „Subjekt“ nur erkennen müsse. Zum neuzeitlichen Denken gehört es auch, das Recht als operativ geschlossenes, autonomes Funktionssystem zu sehen, das Autopoiesis betreibt. Das heißt, das Rechtssystem produziert alle Rechtskommunikationen selbst. Dies geschieht, indem es permanent auf sich selbst verweist – auf andere Rechtskommunikationen des Systems. Diese Selbstreferenzialität des Rechtssystems wurde in der Theorie der begründenden Argumentation kaum berücksichtigt. Anstatt sich auf konkrete Argumentationsweisen in der Praxis zu beziehen, verlegte sie sich auf Verfahrensprinzipien. Diese werden auch unter dem Begriff Prozeduralisierung diskutiert. (Siehe Anmerkung am Textende.) Luhmann kritisiert, dass diese Theorien jedoch vor allem eigene Argumentationsweisen für bestimmte Verfahren empfehlen würden, ohne viel Rücksicht darauf, wie JuristInnen tatsächlich argumentieren. Teils handele es sich um verkappte Verhaltensvorschriften, die gar nicht umsetzbar sind, z.B. die Vorgabe, „alle Umstände der Situation“ zu berücksichtigen. An der juristischen Argumentation selbst, stellt Luhmann fest, gleiten solche Theorien ab. In der Praxis lebt die Argumentation von der Verschiedenartigkeit der Fälle. Damit erreicht sie eine hohe Spezifität, die sich nicht in allgemeine „Prinzipien“ auflösen lässt. Begründungen verweisen auf Rechtsbegriffe wie „Schuld“ oder „Haftung“. Ohne Referenz auf einen konkreten Fall wären solche Begriffe jedoch gar nicht verwendbar. Sie dienen nur als Keywords, die einen Analogieschluss zulassen. Auf diese Weise können Fallerfahrungen bewahrt, bestätigt und auf neue Sachverhalte ausgedehnt werden. Kurz, juristische Argumentation ist nicht aus Vernunftprinzipien ableitbar. Sie kann sich nicht auf ein Denkpotential berufen, das allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stünde. Sondern nur auf ihr eigenes: Argumentiert wird professionell, auf Basis einer Systemrationalität, die die rechtliche Kommunikation selbst festlegt. Vollständiger Text: luhmaniac.de
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    1 h y 21 m
  • 78. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 338, K08
    Feb 14 2024
    Zum Auftakt weist Luhmann darauf hin, was Argumentation im Rechtssystem nicht vermag: Argumente können geltendes Recht nicht ändern. Im Gegensatz dazu schränkt das geltende Recht die Möglichkeiten ein, wie argumentiert werden kann. Zum Beispiel: nicht mit Moral. Durch Texte sind verschriftlichtes Recht und mündliche Argumentation strukturell gekoppelt. Das heißt, Argumente müssen den vorliegenden Fall in Bezug setzen zum geltenden Recht und dieses interpretieren. Zum Beispiel muss ein Gesetzestext auf die Frage hin interpretiert werden, ob ein gleicher Fall vorliegt oder nicht. An welchen Begriff jedoch dabei angeknüpft wird, ob und wie oft eine Textstelle zitiert wird – all das war offen, als der ursprüngliche Text des geltenden Rechts entstand. Das heißt, Texte halten im Rechtssystem Strukturen fest, die jederzeit reproduziert werden können. Wann und wie diese Strukturen dann aber tatsächlich reproduziert werden, das geben sie nicht vor. Texte sind invariabel, sie existieren in einer Simultanpräsenz, alle gleichzeitig. Mündliche Kommunikation erfolgt dagegen in einer Sukzessionspräsenz. Man greift einzelne Aspekte aus dem Text heraus, an die unmittelbar angeschlossen werden kann. Hier ist Variation möglich, durch andere Begrifflichkeiten, neuartige Auslegung. Texte haben darum eine herausragende Bedeutung für das Rechtssystem: Gesetzestexte, Gesetzeskommentare, Gerichtsentscheidungen u.a. Dokumente ermöglichen eine vereinfachte Selbstbeobachtung. Zentral ist dabei die fachliche Fähigkeit von JuristInnen, diejenigen Textstellen überhaupt zu finden, die bei der Entscheidungsfindung relevant werden könnten. Einschlägige Textstellen zu finden und zu interpretieren, kann dabei zunächst auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung durchgeführt werden. Interpretation ist jedoch weit mehr als die bloße Verdeutlichung des Originaltextes in eigenen Worten. Faktisch entsteht dabei ein neuer Text auf Basis des alten. Und das Original dient darin nur noch als Referenz. Die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung wird JuristInnen abverlangt, sobald sie mit der Interpretation auch argumentieren müssen. Denn die Frage ist ja schon beim Lesen der Rechtstexte: Wie könnte man die eigene Auslegung in der Kommunikation handhaben? Sobald Zweifel auftauchen, ob der Text so oder so ausgelegt werden könnte, gilt es, mehrere Auslegungswege zu durchdenken. Dabei geht es darum, die dem ursprünglichen Text zugrunde liegende Entscheidungsregel zu finden und diese zu begründen. Der Anlass kann sein, dass die bisherige Auslegungsart zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hat. Das heißt, dass auch schon bei der Interpretation von Texten Beobachtung zweiter Ordnung möglich ist. Das beginnt mit der Frage, welche „ursprüngliche Intention“ der Text gehabt haben könnte. Dem Rechtstext muss dabei eine Rationalität unterstellt werden, die von der Rationalität und von der Intention der Institution abgeleitet wird, die ihn geschaffen hat. Etwa: der Gesetzgeber. Die herkömmliche, begründende Argumentationstheorie orientierte sich an der Frage, ob ein Argument akzeptiert oder abgelehnt wird. Denn das ist evaluierbar. Dabei geht man davon aus, das Recht würde sich anhand von zwei primären Unterscheidungen selbst beobachten: Wie lassen sich anhand von Rechtstexten sichere Gründe für Argumente anführen? Wie lassen sich Argumente durch das Auffinden von Fehlern bei der Auslegung entkräften? „Fehler“ und „Gründe“ sind jedoch kein Gegensatz. Es ergibt keinen Sinn, das eine vom anderen zu „unterscheiden“. Beide Vorgehensweisen haben eine je eigene Funktion. Die Suche nach „Fehlern“ dient der Logiküberprüfung. Anhand der Fehlerfrage kann man unterscheiden: Ist die Argumentation und deren Prämissen logisch fehlerfrei oder fehlerhaft? Vollständiger Text auf Luhmaniac.de
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    1 h y 24 m
  • 77. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 333, K07
    Jan 14 2024
    Letzter Abschnitt über die Stellung der Gerichte im Rechtssystem: In einem primär funktional ausdifferenzierten System können auch andere Differenzierungsformen fortbestehen oder sich bilden. So gibt es in Politik, Wirtschaft und Recht je ein Entscheidungszentrum aus Staat, Banken und Gerichten. Nur in diesen Zentren finden wir noch eine weitere Ausdifferenzierung durch Hierarchie vor. In der Peripherie gibt es diese Hierarchie nicht. Die moderne Gesellschaft ist primär funktional differenziert: Globale Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht erfüllen als jeweils autonome Kommunikationssysteme unverzichtbare Funktionen für die Gesellschaft. Neben dieser dominanten Differenzierungsform können andere Formen gleichzeitig bestehen. Im Rechtssystem finden wir eine Differenzierung von Zentrum/Peripherie vor. Gerichte haben dort das Entscheidungszentrum gebildet. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass funktionale Differenzierung, wenn sie einmal bestimmend ist, auch andere Differenzierungsformen zu neuer Blüte bringen kann. Diese Annahme überprüft Luhmann, indem er analysiert, welche Differenzierungsformen wir in Wirtschaft und Politik vorfinden, also: über die primär funktionale Differenzierung hinaus. In der Wirtschaft stoßen wir auf ähnliche Strukturen. So wie Gerichte diverse Paradoxien des Rechtssystems managen (zum Beispiel, dass sie, um Recht zu sprechen, selbst „Richterrecht“ erzeugen), managen Banken Widersprüche des Wirtschaftssystems. Etwa, dass jede Geldzahlung gleichzeitig Zahlungsfähigkeit (beim Empfänger) und Zahlungsunfähigkeit (bei dem, der zahlt) erzeugt. Diese Paradoxie managen Banken, indem sie Zeitdifferenzen gewinnbringend nutzen: Sie vergeben Kredite, die allmählich mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Ebenso bringen Einlagen während der vereinbarten Anlagezeit Zinsgewinne. Allen Geschäften zugrunde liegt ein Zahlungsversprechen. Also ein Risiko, da man nie weiß, ob sich die Erwartung in der unvorhersehbaren Zukunft erfüllen wird. Die Geldtheorie hatte den Faktor Zeit bei der Vermehrung der Geldmenge lange vernachlässigt. Eine weitere Paradoxie, die Banken im Zusammenspiel mit der Zentralbank managen, besteht darin, die Geldmenge im System mal als konstant, mal als variabel zu behandeln. Im Unterschied zu Gerichten sind Banken aber eher Abschluss der funktionalen Ausdifferenzierung der Wirtschaft als System. Depositenbanken etwa, bei denen der Kunde der Bank Kredit gewährt durch Einlagen wie „Termingeld“, sind eine relativ junge Organisationsform. Im Gegensatz dazu markierte die Entstehung von Gerichten den Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Beide Systeme sind in ihrer Selbstreproduktion (Autopoiesis) jedoch gleichermaßen von außen nicht mehr steuerbar; was man besonders an den Finanzmärkten bestaunen kann. Im Wirtschaftssystem bilden Banken das Zentrum. ... (Vollständiger Text auf luhmaniac.de)
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    1 h y 16 m
  • 76. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 328, K07
    Dec 17 2023
    In der geschichteten Gesellschaft hatten Adel und Volk nicht die gleichen Rechte. Infolge des Justizverweigerungsverbots entfallen solche gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Rechtsentscheidung. Gerichte ersetzen sie durch Vorgaben, die sie autonom definieren können und die ausschließlich ihrer Funktion dienen: Profession und Organisation. Die „gottgebene“ Schichtung der Ständegesellschaft ist kein Entscheidungskriterium mehr. Das Gericht ersetzt derlei Vorgaben durch selbst bestimmbare Vorgaben: Organisation und Profession werden entscheidend dafür, wer wie unter welchen Bedingungen „Mitglied“ des Gerichtssystems werden kann und wie Entscheidungen herbeizuführen sind. Beide Vorgaben sind funktional orientiert. Sie dienen der Autopoiesis und damit der Autonomie. Das Gerichtssystem organisiert seine Kommunikation selbst – in Form von Behörden, Ausbildungsbedingungen, Kompetenznachweisen, Selbstaufsicht etc. Evolutionär war diese Entwicklung riskant. Immerhin wurde die Rechtsentscheidung von einer Vorgabe abgeschnitten, die jahrtausendelang das Weltbild geprägt hatte. Auch wenn es Kritik gibt, die bezweifelt, dass Gerichte unabhängig vom sozialen Ansehen entscheiden würden – es bleibt die soziologische Frage: Welche sozialen Einrichtungen waren nötig, um eine derartige Autonomie zu behaupten und abzusichern? Als Voraussetzungen kann man feststellen: Profession und Organisation. Aber was bedeutet das? Die Theorie sozialer Systeme bricht diese Begriffe auf die operationale Ebene herunter: Beides sind Operationen, die durch Kommunikation ausgeübt werden. Die Kommunikation ist funktional, sie dient der Grenzziehung zwischen Gerichtssystem und Umwelt. Indem das Gerichtssystem laufend eingrenzt, was professionell/unprofessionell ist, reproduziert es sich selbst. Der Begriff der Autopoiesis wird hierin erneut greifbar: Wie jedes soziale System, reproduziert auch das Gerichtssystem alle Kommunikationen, aus denen es besteht, ausschließlich selbst. Wie man RichterIn werden kann, was als professionell zu gelten hat, all das kann das Gericht selbst definieren und laufend internen Bedürfnissen anpassen. Die gesamtgesellschaftliche Vorgabe der Schichtung wird durch systeminterne Vorgaben ersetzt: Es braucht juristische Kompetenz, um Rechtsentscheidungen zu treffen. Durch Kompetenz wird dann auch die Frage entschieden, welche Organisationen ein Gerichtssystem braucht, welche Rollen es gibt und wie diese Organisationen zu arbeiten haben. Das System reguliert sich selbst und zwingt sich zur Selbstbeobachtung. Es gibt eine Dienstaufsicht. Es definiert, wie viel erledigt werden muss. Es koordiniert zeitliche Abläufe durch Termine. Die Interaktion im Gerichtssaal bedeutet Kommunikation unter Anwesenden und ist durch selbst entworfene Verfahrensregeln festgelegt. Der Umgang mit Fehlern ist systemintern reglementiert. Interne Streitigkeiten werden durch Argumentation gelöst, die wiederum professionell sein muss. Wer welche Positionen, Einkommen und Karrierewege einschlagen kann, wird ebenso durch Kommunikation definiert. Profession ist die Voraussetzung für Organisation. Karrierefragen werden durch Selbst- plus Fremdreferenz entschieden. Zwei Perspektiven müssen miteinander abgeglichen werden. Dies mag sich systemintern auf das Verhalten von RichterInnen auswirken. Die Umwelt könnte aber ihr Verhalten nicht „steuern“. Ein negatives Presse-Echo auf ein Urteil würde nichts am Gehalt, an der Position und an der Rechtsgültigkeit der Entscheidung ändern. RichterInnen können nicht für die Folgen ihrer Entscheidung verantwortlich gemacht werden! Durch Organisation wird dieses Risiko abgedeckt. Organisation ermöglicht Unverantwortlichkeit für die Folgen von Entscheidungen. Profession und Organisation sind also funktional äquivalent. Durch Profession kann das Gericht autonom entscheiden... Vollständiger Text auf luhmaniac.de
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    1 h y 16 m